Das Kinderleben ist ein Kinderspiel
Warum Experten wie der Kinderarzt Herbert Renz-Polster dennoch vom Spiel-Defizit-Syndrom sprechen? Der Grund dafür ist simpel: Kindern bleibt zu wenig Zeit zum Spielen. Berge von Hausaufgaben, zahlreiche zusätzliche Aktivitäten wie Geigenunterricht oder Logopädiestunde, Nachmittagsbetreuung und die modernen „Zeitvernichtungsmaschinen“ Handy, Fernseher und Computer lassen oftmals zu wenig Freiraum. Die American Academy of Pediatrics, einer der weltweit renommiertesten Verbände von Kinderärzten, warnt deshalb vor dem Mangel an freiem Spiel. „Die kindliche Entwicklung wird dadurch in ihren Grundfesten bedroht!“, zitiert Renz-Polster in seinem aktuellen Buch „Menschenkinder“.
Warum Kinder spielen müssen
Kinder lernen im und durch das Spiel: So hat es die Natur vorgesehen. „Hindert man Rattenjungen am Spielen, so bildet sich ihre Großhirnrinde nicht richtig aus und sie sind lebenslang in ihrem Sozialverhalten gestört“, erklärt Kinderarzt Renz-Polster. Dass diese Beobachtung ohne weiteres auf Menschenkinder zu übertragen ist, unterstreicht ein anderes entwicklungspsychologisches Experiment. Darin sollten Kinder so lange wie möglich stillstehen – im Schnitt gelang ihnen das zwei Minuten lang. Als man ihnen aber sagte, sie seien jetzt Soldaten auf Wache, schafften sie es ganze sieben Minuten! Das Kind erreicht im Spiel sein höchstes Leistungsniveau. Es trainiert kreative und soziale Fähigkeiten, spielt Strategien durch, erprobt Beobachtetes und gewinnt daraus neue Erkenntnisse, es übt Widerstandskraft und sammelt Erfahrungen. „Fertigkeiten, die ihnen vom begnadetsten Pädagogen nicht beigebracht werden können“, bringt es Renz-Polster auf den Punkt.
Was sind die Folgen von Spielmangel?
Der erfahrene Kinderarzt verweist auf die Zunahme heilpädagogischer Behandlungen. Immer mehr Kinder bekämen Ergotherapien, logopädische Behandlungen und Psychotherapie verordnet. Renz-Polster forschte nach den Gründen dafür und fand heraus, dass zehn Prozent der therapieerfahrenen Kinder überhaupt nicht mit anderen Kindern spielten und weitere 37 Prozent tun dies maximal eine Stunde täglich. ADHS, Sprachstörungen und Wahrnehmungsstörungen seien, so der Arzt, in vielen Fällen „selbst gemacht“ – durch das Fehlen freier Spielzeit und des Austauschs mit anderen Kindern. Rufen wir uns doch unsere eigene Kindheit in Erinnerung. Wie wunderbar waren diese stundenlangen Spielerlebnisse: auf Bäume klettern, Verkleiden mit Freunden, Spiellandschaften aufbauen und dergleichen mehr! Und stellen wir uns zum Abschluss gemeinsam mit dem Arzt und Buchautor Herbert Renz-Polster dann „die Frage für Menschenkinder, die vor allem für Legehennen wichtig erschien: die Frage nach der artgerechten Umwelt!“
Text: Petra Autherid